WACKELIGE FÜSSE
Du standest plötzlich mitten in meinem Leben. Die Zeit dafür war denkbar ungünstig.
Ich schloss die Augen, denn so konnte ich dich besser nicht sehen.
Und du warst da. Immer mal wieder überquerten sich unsere Wege. Und ich schloss die Augen, um das Nichtsehen noch ein wenig zu trainieren.
Trotz geschlossener Augen sah ich, dass du dich nicht gut sehen konntest.
Du warst ein Suchender. Und ich war es vermutlich auch. Suchend. Und vielleicht war es genau das, was uns miteinander verband.
Du warst mutig und ängstlich zugleich. Wortgewandt und schüchtern in einem. Bedacht und unaufmerksam. Alle Gegensätze hattest du sehr hübsch in dir vereint. Und
weil ich es so gut sehen konnte, trotz geschlossener Augen, erinnerte es mich wohl. Du erinnertest mich. Du erinnertest mich an mich. Und ich wusste es erst nicht. Und auch du hast davon nichts
bemerken können.
Und wir hefteten Ideen an den anderen. Knüpften Fäden aneinander und bauten damit Stolperfallen, ohne es auch nur zu erahnen. Wir verwoben die Leben miteinander.
Künstlich. Und schafften dadurch vermeintliche Sicherheiten. Zuversicht ebenfalls. Aller Fokus lag auf Paralleluniversen. Und jeder konstruierte sich sein eigenes.
In deinem hing dein ganzes Glück an mir.
In meinem hing alles und nichts an der Starre. Alle Ängste wirbelten auf. Aber ich hatte keine Lust, sie zu betrachten. Also schloss ich die Augen. Das konnte ich
mittlerweile schon recht passabel.
Und wenn ich sie geöffnet hatte, dann blendete die Sonne unwahrscheinlich und auch die Nacht war tiefdunkel.
Manchmal fühlte ich unendliche Wärme und Dankbarkeit über das hin und wieder Überkreuzen der Wege. Manchmal ließ es mich einfach nur erschauern. Gemeinsam hatten
wir nichts und alles. Verschiedene Welten und Blicke und Leben und Vorstellungen. Verschiedene Zeiten auch. Als ob zwei so unterschiedliche Rhythmen nebeneinander nie existieren könnten. Und doch
taten sie es. Und manchmal berührten sich die unterschiedlichen Rhythmen und ließen einen ganz eigenen und neuen Tanz entstehen.
Und dann tanzten wir. Als gäbe es kein gestern und kein morgen und keine Menschenseele als uns auf der Welt. Und die Zeit lief rückwärts oder hielt an oder rannte.
Und manchmal alles zur gleichen Zeit.
Und wenn die Wege sich nicht kreuzten und nur nebeneinander her verliefen oder voneinander weg, dann war das in Ordnung und befremdlich zugleich. Und das
Nichtüberkreuzen brachte Klarheit dann. Und es half beim Sortieren. Bis zur nächsten Kreuzung und Überkreuzung und gemeinsamen Schnittstelle. Und dann saßen wir da. Manchmal den Tränen zu nahe.
Aber wir zeigten sie uns nicht. Wir konnten uns schließlich nicht alles zeigen. Nur die halbwegs ertragbaren Dinge. Und so waren wir uns fremd und nah zugleich. Vertraute und Unwissende. Suchende
und Findende in einem.
Und wir reichten uns die Hand. Oder vielleicht auch nur den kleinen Finger. Und zögern und verzagen, das konnten wir nicht schlecht. Aber gleichzeitig konnten wir
noch mehr. Wir konnten den anderen sehen, obwohl er es selbst noch nicht konnte. Ich konnte dich sehen. Hindurch durch all die Schalen und Mäntel von Unsicherheit und Schutz und Angst und Wut und
Mut. Und ich glaube, du konntest mich auch sehen. Oder zumindest Schattierungen von mir. Hindurch durch meine Schalen und Mäntel und Mauern.
Und innerlich begann sich etwas zu bewegen. Als ob etwas ganz langsam aus seinem Versteck hervortritt. Aber äußerlich hielten wir die Mauern noch aufrecht. Und wir
besserten sie aus, wenn sie anfingen, porös zu werden oder wenn gar Steine aus ihnen heraus fielen.
Und wir sprachen. Aber die Tiefe dessen, was innerlich zu Gange war, konnte man nur bei genauem Hinhören zwischen den Zeilen erahnen. Es bedurfte auch etwas Übung.
Wer ist es heutzutage schon gewohnt, zwischen den Worten und in der Stille und dem Schweigen zu lesen?
Und es ging um nichts. Und gleichzeitig ging es um sehr viel.
Keine Erwartungen aber irgendwie auch doch.
Keine Ziele und irgendwie doch auch.
Parallel und so weit weg voneinander, das ging ganz gut. Und gleichzeitig auch nicht. Weil es parallel anfing zu rütteln und zu ruckeln, zu bröseln und zu
zerfallen. Und man konnte gar nicht so schnell so viele Schüsseln aufstellen, die den Regen auffingen, weil das Dach so löchrig geworden war. Und plötzlich wurden auch die Füsse im Schuh nass,
weil überall nur noch Regen war. Und er sammelte sich. Und das Wasser stieg in Richtung Hals. Und dabei liebte ich den Regen. Und sein Geräusch, wenn er auf das Dach fällt. Aber wenn das Dach
schon undicht ist, klingt er anders und nicht mehr so lieblich und vertraut. Er bekommt dann eine andere Farbe und beginnt, aufzuweichen. Zuerst glaubt man, man könne ihn bändigen oder zähmen.
Aber wenn es unaufhörlich weiter regnet, dann verliert man den Überblick beim Rettungsversuch.
Und der Regen war standhaft. Und er war aufweichend. Und er brachte Gegenstände zum Schwimmen, die gar nicht für das Schwimmen gedacht waren. Und manchmal spürte
ich den Boden unter meinen Füssen nicht mehr. Er war weggespült und fortgeschwemmt. Und unter mir war nur Schlamm und Matsch. Und sie hatten einen starken Sog in sich. Und sie zogen an mir und
zogen.
Und irgendwie traute sich irgendwann die Sonne zwischen den Wolken hervor. Und sie war warm und kraftvoll. Und der Matsch veränderte sich. Er tat es nicht gleich
aber er tat es beständig. Und irgendwann war das Wasser getrocknet und der Boden unter mir war es auch. Und ich konnte wieder kleine, wackelige Schritte tun. Und ich tat sie. Und wackelte vor
mich hin. Als wäre ich noch nie zuvor gelaufen. Und doch fühlte es sich bekannt an.
Und ich tippelte und wackelte.
Und ich erinnere mich noch an die sich überkreuzenden Wege. Und sie scheinen Jahrhunderte zurück zu liegen. Aber wenn ich mich an sie erinnere, werde ich auch
wieder wackelig. Und es ist in Ordnung zu wackeln. Es ist in Ordnung.
WASSER IM BACH
Vielleicht hätte ich dir vor nicht all zu langer Zeit beigepflichtet. Gut möglich. Und dann hätte ich ebenfalls behauptet, dass wir gescheitert sind. Und manchmal fühlt es sich wirklich danach an. Weil es nicht der Norm entspricht. Und wir ihr nicht entsprechen. Weil wir alles machen, was man so nicht macht. Und weil wir alles machen, was wohl eigentlich das Ende einläuten und einen finalen Strich ziehen würde. Und es mag gut sein, dass das für andere auch so ist. Und sie endgültige Striche unter etwas ziehen. Und dann sind sie verletzt und böse aufeinander und verärgert und gemein. Und dann tun sie Dinge, die sie vielleicht danach bereuen.
Und wir bereuen auch. Aber ohne den finalen Strich.
Und wenn wir bereuen, versuchen wir zu verstehen. Die Situation und den anderen, vor allem aber uns selbst. Und manchmal ist es noch nicht gleich zu verstehen und wir werden ungerecht und böse. Aber manchmal versteht es sich später und man versteht sich plötzlich und das eigene Tun. Und dann wird alles glasklar. Und man erkennt, dass nichts mit dem anderen zu tun hat, sondern immer nur mit sich selbst. Und dann kann man sich darin üben, milde zu sich zu sein. Und man kann versuchen, das Urteilen heute einmal ungenutzt in der Ecke stehen zu lassen. Stattdessen könnte man heute einmal staunen und sich selbst bestaunen und das Tun und die Umstände und das Gemeinsein und das Bereuen.
Und erstmal ändert das wohl nichts. Aber dann eben doch. Das Nichtverurteilen ändert Tropfen für Tropfen für Tropfen. Und diese Tropfen haben Kraft. Sie lösen auf. Sie wandeln um. Sie verdünnen und während sie verdünnen, formen sie einen Bach. Und in dessen Wasser verwandeln sich das Gemeinsein und das Bereuen. Und das Wasser bringt ebenfalls Milde mit sich. Und auch etwas Zuversicht. Und Vertrauen trägt es ebenfalls im Gepäck.
Und ja, vermutlich könnte man sagen, wir sind gescheitert. Und du bist es und ich bin es. Und täglich scheitern wir ein bisschen durch das Leben.
Aber gleichzeitig versuchen wir auch. Und wir bestaunen das Scheitern und das Versuchen. Und durch das Bestaunen verändert das Scheitern seine Umrisse und seine harten Kanten. Und es wird weicher und ungefährlicher. Und die Angst davor verändert sich auch mit. Sie verwandelt sich und wir verwandeln uns. Und morgen schon begegnen wir uns ganz anders als heute noch. Weil wir heute noch nicht sehen, was wir morgen längst wissen.
Und ja, anstrengend ist es wirklich auch. Aber auch besonders. Und wir könnten möglicherweise bis an unser Ende zusammen Scheitern und uns dabei bestaunen und uns im anderen erkennen und uns am Ende immer wieder selbst erkennen.
ORDNUNG IM SCHUBFACH
Und wenn ich dir erzähle, dass ich den Herbst liebe, dann weißt du von mir nur, dass ich den Herbst liebe. Es sagt nichts anderes über mich aus. Und du kannst anfangen, es zu interpretieren, zu drehen und wenden und etwas dazu oder wegzudichten.
Ich hab dir nicht verraten, warum ich es tue. Und du hast auch nicht danach gefragt. Vielleicht noch nicht. Vielleicht wirst du es auch niemals tun, wirst nie nachfragen, sondern denkst dir lieber deinen Teil.
Oft tust du das so. Du denkst dir deinen Teil, ohne dass du mich jemals konkret danach gefragt hättest. Und dann öffnest du eine Schublade und dort legst du hinein, was du dir über mich ausgedacht hast. Aber konkret gefragt hast du mich nie.
Und dort liege ich nun. Und ich werde wohl für immer dort liegen bleiben. Es müsste schon etwas Außergewöhnliches geschehen. Ein Erdbeben vielleicht, das die Schubladen durcheinander wirbelt.
Und plötzlich liege ich in der Schublade links unten und nicht mehr in der ganz oben rechts. Und dann bist du ein wenig verwirrt. Vielleicht auch ein wenig mehr. Weil du oben rechts einfach nicht mit mir gerechnet hast. Und dann weißt du gar nicht, was du nun dort mit mir anfangen sollst. Und weil du es nicht mehr weißt, gehst du einfach.
Aber du gehst nicht weit weg und du bleibst auch nicht lange, denn es treibt dich doch sehr um. Und schon bist du wieder da. Und dann fängst du an zu räumen. Und du sortierst alles aus den Schubfächern raus. Und du betrachtest kurz, was sich da so über die Jahre angesammelt hat. Und plötzlich ist der Tag vorbei. Aber du bist längst noch nicht fertig mit dem Ausräumen. Du machst morgen weiter oder nächste Woche.
Aber nächste Woche hast du dann erstmal keine Kraft mehr dafür. Und du bleibst eine Weile im Bett liegen. Und noch eine Weile. Und es werden einige Wochen noch mehr. Und während du so in deinem Bett liegst, fast regungslos, musst du an deine Schubfächer denken. Und daran, wie einfach alles war als sie ihre Ordnung hatten und du immer genau wusstest, wo etwas zu finden war. Du hättest blind sein können und es hätte dunkelste Mitternacht sein können, es hätte dir nichts ausgemacht. Du wusstest, wo alles zu finden war.
Und nun liegst du hier. Fast bewegungslos liegst du hier in deinem Bett. Und du schaust rüber zu den halb ausgeräumten und durcheinander gewirbelten Schubfächern.
Dieses verdammte Erdbeben. Wer hätte damit auch rechnen können? Du jedenfalls nicht.
Und du erinnerst dich, dass ich den Herbst mag. Und du fängst an dich zu fragen, ob du ihn wohl auch magst, den Herbst. Oder zumindest mögen könntest irgendwann. Und dann fällt dir ein, dass du gar nicht weißt, ob du vielleicht eine andere Jahreszeit magst, den Sommer vielleicht. Und außer den Jahreszeiten, was magst du da überhaupt?
Ja, natürlich. Du liebst aufgeräumte Schubfächer. Aber außerdem?
IM WINTER
Ich höre dir zu.
Na gut, manchmal tue ich auch nur so, als würde ich. Weil ich gar nicht so schnell bin, wenn mich deine Worte wie aus dem Nichts überrollen. Und dann versuche ich zuerst, mit ihnen mit zuschwimmen. Aber es dauert nur sehr kurz und dann bin ich untergetaucht. Man könnte auch eintauchen oder mitgehen. Und manchmal gelingt es mir auch gut.
Aber heute nicht. Heut ist die Welle zu groß und ihre Worte zu schnell und die schnellen Worte sind so wuchtig.
Und ich merke, wie ich nicht mehr zuhören kann. Oder nicht mehr will. Oder beides. Und ein wenig schleppe ich mich trotzdem noch. Und ich schlucke salziges Wasser vom ständigen Untertauchen. Und dann treibe ich wieder zur Oberfläche. Irgendwie scheint es mir gelungen zu sein. Und dann schnappe ich schnell nach Luft vor dem nächsten Untertauchen.
Aber dann lass ich mich doch lieber völlig erschöpft an Land treiben. Und die Wellen umspülen noch sanft meine Füße. Manchmal reichen sie noch bis zum Bauch. Aber sie reißen mich nicht mehr in die Tiefe.
Und dann liege ich da. Erschöpft. Und ein salziger Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Gar nicht so zaghaft, wie er es vielleicht könnte. Eher abrupt.
Und ich möchte dir wirklich gern zuhören. Aber heut scheint auch die Sonne so glänzend. Und es ist doch gerade Sommer. Und überhaupt.
Lass uns doch später einander zuhören. Vielleicht im Winter. Da hat man sowieso nichts besseres vor.
Und dann können wir uns mit Worten überfluten und uns gegenseitig an den Sommer und den Salzgeschmack und die sandigen Füße erinnern. Später. Im Winter.
DIESES WIR
Du entscheidest dich, mich vorher zu verlassen. Und vorher meint, noch bevor wir uns überhaupt kennengelernt haben. Ich hab mich auf dich gefreut. Und ich muss zugeben, ich hatte schon diverse Bilder und Eindrücke in meinen Gedanken. Und natürlich waren es allein meine Eindrücke. Fantasiegebilde. Denn ich hatte ja noch gar keine Erinnerung, auf die ich hätte zurück greifen können.
Nur Erzählungen von fremden oder näheren. Aber es waren eben nur deren Erzählungen. Und ein wenig fremd bleiben sie einem doch immer auch, selbst wenn man sich näher kennt. Denn es sind ja ihre Erlebnisse und nicht die meinen und nicht die mit dir.
Mit dir. Oder ohne dich. Jetzt wohl eher ohne dich. Denn du bist ja vorher gegangen. Aber ohne dich stimmt irgendwie auch nicht ganz. Denn mindestens als Idee warst du ja schon da. Vielleicht warst du auch schon ein wenig mehr als eine Idee. Eine Idee plus, sozusagen. Und das Plus meint hier, dass du wirklich schon ein bisschen im echten Leben stattgefunden hast. Auch wenn du mit den üblichen Sinnen noch nicht zu fassen warst. Und doch. Mit den anderen Sinnen. Denen, die sich immer nur sehr schwer beschreiben oder gar in Worte fassen lassen, mit denen warst du da. Da und auch wahrzunehmen. Jedenfalls die Idee von dir. Meine Idee und ein bisschen auch du selbst.
Und jetzt bist du weg. Aber auch das noch nicht so richtig. Ein wenig bist du sogar immer noch da. Aber am meisten bist du es in meinen Gedanken.
Wie soll man das denn auch begreifen können? Selbst wenn man nicht durch Milchglas oder ganz nüchtern darauf schaut, bleibt es unbegreiflich. Für mich jedenfalls.
Und die Reaktionen der fremden und der näheren, sie sind so verschieden, wie es verschiedene Formulierungen auf die Frage, wie es denn geht, gibt. Und diese verschiedenen Reaktionen sagen eine Menge und gleichzeitig sagen sie auch gar nichts. Manchmal führen sie zu einem Gefühl der Einsamkeit oder Traurigkeit. Und manchmal werfen sie die Schuld auf den Tisch und Versagensgefühle und Zweifel und viel mehr auch noch.
Aber gemeint waren sie so sicher nicht. Sicher nicht.
Und nun, da du vorher gegangen bist, sammel ich mich auch erstmal wieder ein bisschen ein. Ich glaub, dass ich manche Teile wohl an den falschen Stellen platziert haben muss. Jedenfalls fühlt es sich manchmal so an. Und dann bin ich ganz verwirrt und verzettel mich beim Herausfinden, wo der richtige Platz denn sein könnte.
Und auch Abschied nehmen steht noch an. Bislang schiebe ich es von einer Ecke in die andere und räume es von hier nach da und wieder zurück. Ich habe große Lust mich abzulenken. Aber ich weiß schon, dass ich gedanklich sowieso wieder hier lande. Also kann ich es auch sein lassen. Abschied nehmen also. Wie stellt man das denn am besten an? Schließlich stehen wir beide nicht am Bahnhof und ich kann nicht mit einem weißen Taschentuch hinter dir herwinken, nachdem du im Zug sitzt und davon fährst. Oder doch? Die Vorstellung gefällt mir gerade ganz gut. Und ich schnäuze erst einmal in ein weißes Taschentuch. Und plötzlich rinnen die Tränen wie reißende Flüsse. Und wie gern würde ich sie jetzt aufhalten oder stoppen oder Dämme bauen aber ich lass sie rinnen und stürzen. Denn irgendwie tut es doch auch gut.
Und ich sitze abends noch, wie ich am Morgen schon saß, nur mit verquollenen Augen und umgeben von einem weißen Knüllmeer verbrauchter, weißer Taschentücher überall um mich herum.
Ich bin erschöpft und tränenleer. Sicher werde ich nie wieder weinen können, weil ich heute alles aufgebraucht habe, was mir an Tränen in diesem Leben zur Verfügung stand.
Ein wenig leichter fühle ich mich jetzt doch und so erschöpft. Und ich hab immer noch keine Ahnung, wie es jetzt weiter gehen soll oder was ich tun soll oder auch nicht tun soll. Gerade weiß ich gar nichts. Aber vielleicht ist das auch ok.
Vielleicht sollte ich mit jemandem reden und von dir und mir erzählen. Aber was soll ich erzählen. Es gibt ja noch gar nichts an Erinnerungen, auf die ich zurück greifen könnte. Es gibt nur dich als Idee in meinen Gedanken. Und ein wenig mehr gibt es dich auch, jedenfalls noch.
Und auch, wenn du vorher gegangen bist und wir gar keine Möglichkeit hatten, uns richtig kennen zulernen, so gibt es doch irgendwie auch dieses wir.
WIE ES GEHT
Und du fragst mich gar nicht erst, wie es mir geht. Weil dir die Frage gar nicht einfällt und du auf die Idee nicht kommst. Nein, du fragst mich nicht. Du fängst
einfach an zu sprechen. Und während du einfach so anfängst zu sprechen, hab ich Mühe, mich zu sortieren. Weil es mich irgendwie rausreißt aus mir. Das müsste es nicht. Aber es tut es manchmal
trotzdem. Und ich versuche mich gleichzeitig zu schütteln und dir zu folgen und mich dabei selbst an mir festzuhalten. Aber alles gleichzeitig sind meistens mindestens zwei Dinge zu
viel.
Und dann steh ich da und die Frage, wie es mir eigentlich geht, kommt mir selbst nicht mehr in den Sinn. Weil ich zu sehr damit beschäftigt bin und werde, wie es dir
eigentlich so geht. Aber wie es dir geht, kann ich gar nicht verstehen, weil du so viel erzählst und ich die Antwort auf die Frage gar nicht filtern kann unter all den schnellen
Worten.
Und ich bemerke, dass ich innerlich Alarm schlage und gleichzeitig weglaufen und auf der Stelle einschlafen könnte. Auf der Stelle. So erschöpfen mich diese vielen
aneinander gereihten Worte. Und ich schnappe nach Luft und versuche auch ein Wort zu sagen. Aber es verhallt oder wird erstickt unter der Last der entgegenkommenden Worte. Und ich bin
überfordert, weil die Frage, wie es mir geht, nicht gestellt wurde und ich die Antwort, wie es dir geht, nicht ausfindig machen kann.
Und ganz erschöpft, lass ich mich einhüllen in die entgegenkommenden Worte. Und manchmal fange ich das ein oder andere auf und betrachte es von allen Seiten und
verliere mich darin. Und so spielen wir das Spielchen eine gute, lange Weile. Und es ist uns beiden sehr vertraut, weil wir es immer so spielen beim Aufeinandertreffen. Aber ich frage mich, ob es
nach all den langen Jahren nicht möglich ist, ein neues Spiel auszuprobieren. Vielleicht eines, was mit der Frage und Antwort auf die Frage, wie es denn geht, beginnt.
MEHR ZEIT
Täglich staune ich ein bisschen. Manchmal ist es auch etwas mehr als nur ein bisschen.
Meistens bestaune ich mich und mein Verhalten und dich, wenn wir uns verhalten und die Situation des Verhaltens. Und all das lässt mich manchmal verwundert den Kopf
schütteln oder laute Worte aussprechen oder gar keine. Und während ich so vor mich hin staune und laute oder keine Worte ausspreche, höre ich die Zeiger der Uhr an der Wand im Takt schlagen. Sie
klingen klar und deutlich und manchmal klingen sie so als würden sie sich lustig machen über die Dinge, die ich bestaune. Sie klingen dann als wüssten sie Bescheid und als wäre das mehr als ich
jemals wissen könnte.
Ich schaue ihnen einen Weile zu, wie sie sich gleichmäßig bewegen. Manche bewegen sich so, dass ein kleiner Blick genügt, um zu prüfen, ob sie sich denn noch immer
bewegen. Andere betrachtet man und man betrachtet sie und sie rühren sich nicht. Man müsste ihnen wohl länger zuschauen, um ihre Bewegung erfassen zu können. Aber länger als einen flüchtigen
Blick möchte ich ihnen nicht widmen. Lieber betrachte ich sie mit vielen kleinen, flüchtigen Blicken. Und dann sehe ich ihre Bewegung wieder nicht aber dass sie sich bewegt haben müssen, das kann
ich erkennen.
Und während ich die unterschiedlichen Zeiger der Uhr bestaune, staune ich über mich selbst und meine Getriebenheit. Ich stelle fest, dass ich nie Zeit habe oder mir
sie nie nehme. Und was würde ich überhaupt mit ihr anstellen, wenn ich plötzlich welche hätte. Keine Antwort. Ich bin es eben nicht gewohnt, hör ich die Gedanken in meinem Kopf immer lauter
werden
Und ich bestaune sie, die Gedanken in meinem Kopf. Sie scheinen immer und zu allem etwas zu sagen zu haben. Und sie scheinen auch genau Bescheid zu wissen, so wie die
Zeiger der Uhr. Denn die Gedanken klingen wissend und bestimmend und sehr eindringlich. Da sind die Zeiger der Uhr ganz anders. Sie sind leiser und friedlicher. Sie lassen mich einfach staunen,
während ich sie betrachte.
Ja, ich könnte ihnen vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit schenken und auch sie noch etwas mehr bestaunen. Wenn ich doch nur mehr Zeit hätte.
GESCHENKTE AUFMERKSAMKEIT
Ich höre ihm zu, dem Körper. Deinem oder meinem, das spielt dabei keine grosse Rolle und es macht auch keinen Unterschied. Ich höre ihm zu und lausche. Ich lausche so
laut, wie man es wohl sonst eher sehr selten tut. Wer nimmt sich schon die Zeit und wer hat jemals gelernt, deutlich hinzulauschen. Und selbst wenn man es versucht, worauf soll man denn achten
beim Lauschen. Wie macht sich so ein Körper denn bemerkbar, so, dass man das Bemerkte dann auch noch verstehen kann.
Und da liegt wohl auch der Hase im Pfeffer. Im Wollen, liegt er pfeffrig. Oft will man dann zu viel. Wenn man sich nun schon die Zeit zum Lauschen nimmt, dann will
man doch wenigstens auch verstehen wollen.
Und ich glaube, dass das der Punkt ist, an dem alles zusammenbricht. Das Wollen lässt es brechen. Und nach dem Zusammenbruch lässt man es lieber wieder bleiben, weil
man nichts erlauschen konnte in diesen drei Minuten Zeit, die man sich doch extra freigehalten hat, um dem eigenen Körper heute einmal zuzuhören.
Und es geht nicht um die drei Minuten und auch nicht um das Nichtverstehen. Es geht allein um das unbedingte Wollen. Wenn man darauf verzichten könnte. Oder es
wenigstens kurz abgeben oder abparken könnte. Ja dann. Dann wäre es vielleicht auch nicht gleich anders. Vielleicht würde man beim Lauschen auch nichts verstehen. Aber ohne das Wollen gibt es
auch keine Erwartung, die unerfüllt bliebe oder enttäuscht würde. Ohne das Wollen bleibt nur die Neugier übrig. Und mit der Neugier und dem ihr Nachgehen, käme vielleicht ein Funke Staunen oder
auch ein Funke Nichts. Aber auch das macht nichts. Weil es um nichts geht und weil sich der Körper trotzdem sehr an seinem Besitzer erfreut. Er mag es, wenn man ihm lauscht und es macht ihm rein
gar nichts aus, wenn man nichts versteht oder wenn man nur staunt. Er freut sich an seinem Besitzer und er erfreut sich an der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt. Und auch freut er sich, dass er
wahrgenommen wird und erzählen darf, auch wenn man ihn noch nicht versteht. Das macht ihm nichts. Und er ist geduldig. Ein geduldiger Lehrer. Und mit der Zeit wird man ihn verstehen lernen, dafür
sorgt er schon, wenn man ihm immer mal wieder ein wenig seiner Aufmerksamkeit schenkt. Und schlau ist er außerdem. Wenn man seine Sprache nicht versteht, so lernt er eben die des Besitzers. Und
dann spricht er bald sehr deutlich mit einem und nutzt die Sprache, die man gut verstehen kannt. Gut verstehen wird. Wenn man ihm nur etwas Aufmerksamkeit schenken mag.
NICHT MEHR FANGEN
Und ich weiß, dass du dich manchmal von mir überhaupt nicht verstanden fühlst. Ich weiß es. Und um ehrlich zu sein, ich verstehe dich. Vielleicht ist es umgekehrt und an diesem bestimmten, einen Punkt verstehst du dich gerade selbst nur nicht. Denn ich sehe sie, deine Unsicherheit, die sich die Hand hält mit der Angst und der Zerrissenheit. Ich sehe dich. Aber mehr als dich sehen und dir diesen Blick schenken, dass ich dich sehe, kann ich gerade nicht tun. Es wäre vermessen, mehr zu tun. Es steht mir auch nicht zu.
Und deshalb bist du wütend. Und du wirfst mir diese Wut zu. Ich verstehe dich. Und ich sehe, wie sie angeflogen kommt, wie stark sie ist und dass sie mich umwerfen könnte, wenn ich unachtsam bin. Aber ich bin sehr achtsam. Ich lass mich von ihr nicht umwerfen. Nicht mehr. Vor nicht all zu langer Zeit hätte das noch anders ausgesehen. Dann hätte ich sie mit beiden Händen versucht für dich aufzufangen und hätte mich um sie gekümmert, so wie sich eine Mutter wohl um ihr Baby kümmern würde. Aber heute geht das nicht mehr. Ich glaube, ich hab das Fangen verlernt und das Kümmern.
Und ich versteh dich. Und ich seh dich. Dich und deine Überforderung. Und hätte man dir doch nur gezeigt, was mit Überforderung zu tun ist. Dann ständest du jetzt vielleicht ganz anders hier. Oder genauso. Und ich sehe dich und sehe, wie du kämpfst und es dich innerlich zerreißen will und wie du dich am liebsten zerreißen lassen würdest, nur um wieder ruhiger werden zu können. Aber ich verspreche dir, dass es zerrissen nicht ruhiger wird. Im Gegenteil.
Und ich sehe dich. Und ich stehe gern noch weiter hier und schau dir zu, wenn du magst. Aber fangen, fangen werde ich für dich nicht mehr.
NACH DEM ERSCHÜTTERN
Und du fragst mich, was eigentlich meine größte Angst sei und ich antworte, dich zu verlieren.
Und ja, das stimmt auch. Schade wäre es ohne dich und neu und traurig und mehr noch.
Und doch denke ich gerade noch einmal über diese Frage nach, während sich der Himmel orange verfärbt und die Gänse ziehen. Und hier im orange und unter den ziehenden Gänsen denk ich, dass meine größte Angst wohl ist, dass ich es in einem Leben nicht schaffen könnte, mich zum Ausdruck zu bringen und dass ein Leben nicht ausreicht, um mich selbst zu entdecken und zu ergründen und zu verstehen, was in mir vor sich geht und warum. Was, wenn ein Leben nicht genügt, um all dem, was in mir schlummert, Raum zu geben, dass es sich zeigt und entfaltet und erblüht und dass es wächst und gedeiht und erfreut, mindestens mich selbst.
Und dann huscht ein Gefühl von Traurigkeit vorbei. Aber es ist ja noch Zeit. Und ich darf viel weniger müssen als ich es mir bisher erlaubt hab. Viel mehr darf ich wohl lauschen. Und lauschen. Und über das Lauschen dann entdecken und mich im Entdecken erkennen. Und es fühlt sich ruhiger an dann. Und wie schön, wenn ein ganzes Leben dem gilt. Wenn ein ganzes Leben meinem Erkunden und Entdecken gilt. Und ich atme tief, weil so viel Druck von mir fällt. Als könnte ich nun endlich diese schweren Steine ablegen, von denen ich dachte, ich müsse sie von A nach B tragen. Weil jeder Steine von A nach B trägt und ich dachte, das gehöre dazu oder es gehöre sich so. Aber das tut es nicht. Steine sind Steine. Sie fühlen sich auch wohl, wenn man sie nicht andauernd durch die Gegend trägt. Sie wollen auch in Ruhe ihrem Steinsein nachgehen dürfen. Und so soll es fortan sein. Ich überlass die Steine sich selbst, während ich auf die Reise gehe, ohne sie. Und ich reise. Vielleicht auch von A nach B. Aber vorallem reise ich nach innen, um zu entdecken, ob es schlummernde Vulkane oder nahende Erdbeben gibt, ob meine Welt sich links herum oder rechts herum dreht, ob sie sich vorwärts oder rückwärts bewegt und wann sie alles gleichzeitig tut. Ich reise nach innen, denn dafür ist mein Leben wohl gedacht. Und von ganz innen sehen die Dinge in der Welt auch anders aus. Weiter weg auch und interessant durchaus. Aber ich muss mich von ihnen nicht mehr erschüttern lassen. Schließlich sind in mir schon genug erschütternde Dinge vorhanden. Die reichen für ein ganzes Leben. Und wenn sie sich wieder beruhigt haben und die Erschütterung erlischt, ist hoffentlich noch etwas Leben übrig, um der Stille nach dem Erschüttern zu lauschen.
GLÄSER UND FLASCHEN
Du erfreust dich daran, Menschen klein zu machen, redest sie schlecht hinter ihrem Rücken und vor ihrem Rücken stellst du sie bloss. Du findest das lustig und spaßig und humorvoll. Bei mir machst du da auch keine Ausnahme.
Ich finde es nicht lustig und spaßig und humorvoll. Ich finde es verletzend und anstrengend. Es versperrt den Weg zueinander und meine Reaktion ist, dass ich mich entferne.
Ich verstehe auch, dass eigentlich du dich klein fühlst und dass du dir dadurch etwas Grösse verschaffen willst. Aber so richtig gelingen mag es wohl nicht. Und wenn du dann feststellt, dass es eigentlich gar nicht gelingt, dann schaust du schnell weg. Das beherrschst du richtig gut. Du hast es in den Details verbessert. Du schaust schon weg, wenn es sich längst noch nicht anbahnt, das Scheitern. Wenn es noch weit hinter dem Horizont versteckt ist, dann schaust du schon weg. Wie gut du das beherrschst. Und wenn du nicht hinschaust, sondern weg, braucht es auch etwas zum Ablenken. Denn andernfalls wäre wohl die Verlockung, doch immer mal wieder nachzuschauen, zu gross und du könntest ihr nicht widerstehen. Also braucht es Ablenkung und Zusammenkünfte, die du als erfüllend interpretieren kannst, weil du dort dein Kleinmachen gut anwenden kannst und weil dort mitgespielt wird. Und immer mehr brauchst du davon, denn die Wirkung lässt immer schneller nach und verpufft. Und dann findest du dich alleine zu Hause wieder und wirst mit der Wahrheit konfrontiert. Aber du musst ihr nicht ins Auge sehen, du hast ja das Wegschauen inzwischen perfektioniert. Stattdessen schaust du ins Glas oder in die Flasche oder erst in das eine und dann in das andere. Und wenn du das tust, die Gläser und Flaschen bestaunen im vollen und dann im leeren Zustand, dann erinnerst du dich und malst dir die Erinnerungen schön. Und mit jedem Glas werden sie schöner und die Gegenwart ist eigentlich nicht zu ertragen. Aber du erträgst sie und schaust erst ins Glas und dann in die Flasche und schaust sie dir im vollen und dann im leeren Zustand an.
Und da sitzt du dann oder liegst, halb auf dem Tisch, halb noch auf dem Stuhl. Und du siehst das Scheitern nicht, weil du gerade gar nichts mehr siehst. Und so lebt es sich doch ganz passabel. So lässt es sich aushalten, betäubt. Und wenn die Betäubung nachlässt und das Scheitern wieder erahnbar wird, dann steuerst du schnell dagegen und dann machst du dich groß, indem du andere klein machst.
RETTUNG
Was spricht dagegen, auch einmal überfordert zu sein, es auszusprechen und richtig gross zu zelebrieren?
Lange hab ich mir das nicht erlaubt. Lange wusst ich nicht, dass ich das darf. Lange ging ich über meine Grenzen. Weil ich sah, dass jeder das so macht.
Überforderung, ein schönes Wort. Es wirkt gerade wie ein treuer Freund. Es zeigt mir, tritt hier lieber etwas kurz. Es gibt die Möglichkeit zu hinterfragen.
Frauen, Männer, kaum jemand gibt zu, dass es im Moment zu viel verlangt ist. Dass all das, was jetzt gerade wirkt, einen beinah tief zu Boden zerrt.
Und dann liegt man da und keiner sieht es. Ruft nach oben, hier lieg ich, hier unten. Selten trifft ein kurzer, schneller Blick und berührt im Blickenden erinnernd.
Alle steigen einfach drüber weg. Tun, als sei es nicht des Blickes wert. Und im Steigen denken sie zu kurz, wie es wäre, würden sie da liegen.
Weggewischt wird dieser Kurzmoment. Ablenkung ist das, was sie beherrschen. Ablenkung. Und damit fährt man gut. Rettet sie vor sich und dem, was ruft.
VERKANNT
Und manchmal, ja, da nimmt man ihn irgendwie gar nicht so richtig wahr. Huscht über ihn hinweg. Geht davon aus, dass es ihm schon gut geht, dem Körper.
Und ja, man nimmt ihn schon auch wahr. Mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel oder durch einen Schmerz, den er aufzeigt. Aber dann nimmt man ihn wahr, weil man unzufrieden ist. Und wenn man unzufrieden ist, sieht man nicht seine ganze Schönheit. Dann sieht man nur Schwachstellen und Mängel und Urteile.
Und dann will man an ihm rumbessern und ihn verschönern, verschmälern, stählen. Oder man will ihn beherrschen und kontrollieren, ihn dekorieren oder anpassen an Vorstellungen. Und manchmal gelingt das ganz gut. Und dann sieht er aus wie ein Abbild von. Und dieses Abbild von setzt sich zusammen aus abstrusen Werbe-Fotoshop-Korrektur-Operations-Vorbildern. Und dann eifert man dieser Abstrusität nach und wird mit der Zeit vielleicht selbst eine davon.
Und so richtig sieht man den Körper dann immer noch nicht in seiner Schönheit und seinen Talenten und Besonderheiten. Sondern man sieht ihn verwaschen und als schaue man durch Milchglas oder durch eine zu starke Brille. Und dann wischt man über ihn hinweg und wischt seine Bedürfnisse einfach weg. Und das Wegwischen geschieht in keiner bösen Absicht, sondern eher aus einem Nichtwissen heraus. Einem Nicht-Besser-Wissen, weil überall wohin man sieht, nur weggewischt und retuschiert wird. Und dann wischt und retuschiert man eben auch, wenn es alle tun.
Und der Körper verwelkt und verkümmert unter diesem Nicht-Wahrgenommen-Werden. Er wird stiller und lässt über sich ergehen. Doch er ist geduldig. Und hoffnungsvoll. Und verzeihend.
Und er gibt dir die Zeit, die du brauchst, um deine Erfahrungen zu sammeln. Und nach dem Sammeln, wenn dann die Idee aufblitzt, ihn wirklich sehen zu wollen und wahrzunehmen und kennenzulernen und zu verstehen, dann ist er bereit. Nicht, dass er es jemals nicht war, bereit. Aber das wirst du dann erkennen. Und anerkennen. Und ihn anerkennend wertschätzen lernen.
SCHREI
Nach der Geburt ist es dem Baby erlaubt zu schreien. Dann soll es sogar oder es gehört zum guten Ton. Und dann bekommt man schon einen Eindruck vom Kind und dessen Stimme und der Kraft in dessen Stimme.
Und manchmal, ja manchmal, will der erste Schrei nicht gut gelingen. Und dafür gibt es viele, viele Gründe. Einer könnte sein, dass dem Schrei etwas im Weg steht, der Geburtsstress zum Beispiel oder Flüssigkeit in der Lunge.
Und später dann, wenn das Baby gelernt hat zu schreien, dann will man es gern möglichst schnell unterbinden. Unterbinden stimmt vielleicht nicht ganz. Man möchte, dass es dem Baby gut geht. Und wenn es schreit, kann es ihm offensichtlich nicht gut gehen.
Ich denke, schreien heißt nicht automatisch, dass es dem Kind nicht gut geht. Das Schreien ist eine Art der Kommunikation. Und ja, es kann bedeuten, ich hab Hunger, meine Windel ist voll, mein Bauch tut weh. Aber es kann auch bedeuten, ich fühle mich alleine, wo sind denn alle? Es kann Angst ausdrücken, Verlustangst oder die um die eigene Existenz.
Und das Schreien kann auch noch ganz anderes bedeuten. Nämlich, dass die Geburt verarbeitet wird, wenn diese holprig oder schnell oder unerwartet war. Dann hilft das Schreien dem Baby und seinem System. Es hilft, Anspannung und Stress rauszubefördern, es hilft dem vegetativen Nervensystem, sich zu regulieren, sich aus der Daueranspannung zu befreien. Wenn das vegetative Nervensystem im Dauerstress ist, wie sollen dann Stillen und Schlafen und Verdauen gut funktionieren?
Schreien also als Mittel. Als ein Mittel des Babys, sich zu befreien und zu verarbeiten. Und dann ist es so wichtig, das Schreien zu erlauben. Das Baby nicht zu schütteln!!! Sondern das Baby halten, kuscheln, trösten. Ihm Nähe zeigen, mit ihm sprechen, ihm sagen, ich bin hier, ich bin da, du darfst schreien und während du schreist, halte ich dich.
Diese Erfahrung ist unendlich wichtig und so hilfreich für ein Kind. Es lernt, ich darf zum Ausdruck bringen, was mich bewegt. Es lernt, dass es begleitet wird, dass jemand da ist, auch in schweren Momenten. Und es lernt, dass seine Bedürfnisse und sein Ausdruck derer erlaubt sind und ernst genommen werden.
Also nimm dir Zeit und schau gut hin, welches Bedürfnis möchte dein Kind gerade zum Ausdruck bringen. Ist es hungrig oder durstig, verdaut es, braucht es Einschlafbegleitung, hat es Angst, braucht es Nähe oder möchte es sich regulieren. Deine eigene Intuition unterstützt dich dabei und kann dein Kompass sein.
HIMMELBLAU
Und manchmal, da hab ich große Lust, dich einfach anzurufen oder dir zu schreiben oder mit dir ein paar Schritte zu gehen. Nicht nur, weil es viel zu lange her ist, aber auch.
Und dann bin ich unsicher und meine zu glauben, dass wir uns dann vermutlich das Blaue vom Himmel vorlügen würden, wie gut es uns geht und überhaupt. Und dann säßen wir da und Schuld und Scham zwischen uns und sie würden verhindern, dass wir uns als wir begegnen. Und dann würden wir uns als unsere Geschichte begegnen und jeder Blick, jedes Wort wären eingefärbt davon. Und dann würde die Freude über das sich Sehen getrübt.
Also stelle ich es mir nur kurz vor.
Und würdest du fragen, in diesem Moment, wie es mir denn geht, so würde ich vermutlich das Blau des Himmels nutzen, um dir zu antworten.
Aber ja, es geht mir gut. Natürlich tut es das.
Und dazwischen, zwischen dem Blau, würde ich gern mit dir ganz tief einsteigen wollen und reden über die Angst und das Leben und den Abschied und das Sterben und das Lieben und die Freundschaft. Und ich würde dich fragen wollen, ob du glaubst, dass Freundschaft alles überdauern kann, auch Zeit. Und ich würde dich fragen, ob du glücklich bist und was dir dazu fehlt. Und ob das Leben dich zufrieden macht und du es. Und ich würde dich fragen, ob du uns auch ein wenig vermisst, manchmal, so wie ich. Und was du dann tust in diesen Momenten. Und ich würde dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, dass Freundschaft alles verzeiht und ob du glaubst, dass man ganz neu beginnen kann.
Und ich würde dich fragen, ob du den Sommer magst und was an ihm. Und vielleicht würde ich dir erzählen vom Herbst und dem Frühling und den Farben und der Veränderung und dem Abschied nehmen und neu anfangen. Und dass ich glaube, dass Freundschaft alles überdauern kann, auch Zeit.
ORANGE
Orange verfärbt der Abend die Wand in meinem Zimmer. Und er färbt den Himmel und die Wolken und das Licht und den Blick und die Gedanken. Milder werden sie und
zufriedener, ruhiger auch, die Gedanken.
Und ganz leise breitet sich ein Hauch Zufriedenheit aus. Über den Tag und das Licht und über den sanften Wind, der die schwere Hitze des Tages einfach
auslöscht.
Und da sitze ich und schau auf die Farben an der Wand und am Himmel. Und beim Versuch, den Horizont zu erspähen, bläst mir der Wind um die Nase und holt mich noch
mehr in mich zurück.
Und das Jahr, das vergangene, sickert auch in jede Zelle. Die Eindrücke, die Worte, die Taten.
So schnell vergeht ein Jahr. Und ein Tag sowieso. Und dann sitzt man am Abend und lässt sich den Wind um die Nase wehen und das Orange ins Gesicht scheinen. Und ein
bisschen Glück ist auch dabei, beim Betrachten. Und ich erhasche plötzlich eine Idee und ein Gefühl vom letzten Abend und dem letzten Orange und dem letzten Windhauch, der meine Nase umwehen
wird. Und noch tiefer sickern die Eindrücke, die Worte und Taten.
Und ich sitze hier. Betrachte und erahne. Und das Orange und der Wind, sie wirken noch intensiver. Ganz plötzlich wirken sie so als hätte ich sie noch nie zuvor
gesehen und gespürt. Und ich sitze und betrachte und erahne und spüre den Wind an meiner Nase, das Orange an der Wand und mich selbst ganz lebendig dazwischen.
NEUE WORTE